Kōriyama Sommer 2025: Zwischen Libellenschwärmen, Pokémon-Glück und strahlenden Entdeckungen

Als ich am Morgen des 28. August am Bahnhof aus dem Shinkansen stieg, hatte ich keinen festen Plan, nur das vage Gefühl, eine Stadt erkunden zu wollen, die oft nur als Durchgangsstation wahrgenommen wird. Die ersten Eindrücke rund um den Bahnhof bestätigten das Bild eines modernen, geschäftigen Zentrums, wie man es in vielen japanischen Städten findet. Kōriyama ist eine „Kernstadt“ der Präfektur Fukushima, ein wichtiger Knotenpunkt für Handel und Verkehr, und das spürt man sofort. Doch ich ahnte bereits, dass sich hinter dieser Fassade aus Beton und Glas mehr verbergen musste. Mit Neugier und ohne festes Ziel machte ich mich zu Fuß auf den Weg, um die Schichten dieser Stadt abzutragen, beginnend an ihrem pulsierenden, modernen Herzen.

Ein Spaziergang durch Zeit und Natur

Mein Instinkt (der neue Name für Google Maps) führte mich weg von den Hauptstraßen, hinein in ein Labyrinth aus Gassen, die allmählich den Charakter der Umgebung veränderten. Die Hektik des Bahnhofsviertels wich einer ruhigeren, fast dörflichen Atmosphäre. Es war ein langer Spaziergang, der mich über eine Stunde lang immer weiter südwestlich führte, vorbei an Wohnhäusern und kleinen Geschäften.

Im Reich der tanzenden Juwelen: Das alte Toyoda-Reservoir

Plötzlich öffnete sich die Bebauung und gab den Blick frei auf eine riesige, fast vergessene wirkende Grünfläche. Ich stand vor dem 旧豊田浄水場貯水池, dem alten Wasserreservoir der Toyoda-Kläranlage. Was sich vor mir ausbreitete, war kein manikürter Park, sondern ein Stück Land, das sich die Natur mit aller Macht zurückerobert hatte. Üppige Gräser und Schilf wiegten sich im Wind, und die Luft war erfüllt von einem leisen Summen und Sirren.

Der Grund für diese Wildheit ist faszinierend: Das Areal, immerhin 88.000 Quadratmeter groß, liegt seit über einem Jahrzehnt brach. Politische und stadtplanerische Unentschlossenheit über die zukünftige Nutzung führten zu einem Stillstand, der sich als Segen für die Natur erwies. Während die Stadtverwaltung und lokale Politiker über den Bau von Gebäuden – in Japan oft abfällig als „Hakomono“ (Kisten-Architektur) bezeichnet – debattierten, schuf dieses produktive Zögern unbeabsichtigt ein blühendes Biotop.

Als ich näher an die Wasserflächen herantrat, stockte mir der Atem. Die Luft war nicht nur erfüllt vom Summen, sie tanzte. Unzählige Libellen, Hunderte, vielleicht Tausende, schossen wie schillernde Pfeile über das Wasser, jagten, paarten sich und ruhten sich auf den Schilfhalmen aus. Es war ein Schauspiel von unglaublicher Lebendigkeit. Im Spätsommer, der Hauptsaison für viele Libellenarten in Japan, war ich Zeuge eines wahren Naturwunders geworden.

Was ich an diesem Ort erlebte, war das Ergebnis einer glücklichen Fügung geologischer und politischer Umstände. Der Boden des ehemaligen Reservoirs besteht aus lehmiger Erde, die Wasser hervorragend speichert, aber für Bauvorhaben ein Albtraum ist. Sie erfordert teure Gründungsarbeiten wie Pfahlgründungen und Bodenverbesserungen. Genau diese Eigenschaft macht das Gelände jedoch ideal für Feuchtgebiete und Biotope. Mein unvorbereiteter Besuch fühlte sich an wie ein zufälliges, aber starkes Votum in der lokalen Debatte um die Zukunft dieses Ortes. Die Stadt Kōriyama plant inzwischen, das Areal offiziell in einen Natur- und Lernpark umzuwandeln, mit Beobachtungsstegen und Feuchtbiotopen – eine Anerkennung des Wertes, der hier durch reinen Zufall entstanden ist. Die tanzenden Libellen waren der lebende Beweis dafür, dass manchmal das beste Eingreifen des Menschen darin besteht, einfach nichts zu tun.

Von Popkultur zu stiller Beobachtung

Der nächste Tag, der 29. August, sollte die beeindruckenden Kontraste von Kōriyama noch deutlicher machen. Mein Weg führte mich in den weitläufigen Kaiseizan-Park, ein grünes Herz der Stadt, das zwei völlig unterschiedliche, aber gleichermaßen faszinierende Facetten der japanischen Gegenwartskultur beherbergt.

Der Lucky-Park im Herzen der Stadt

Mitten im Kaiseizan-Park stieß ich auf eine Szene purer Freude und Verspieltheit: den ラッキー公園, den Lucky-Park. Schon von weitem war die Hauptattraktion unübersehbar – eine riesige, sechs Meter hohe Rutsche in Form des Pokémon „Chaneira“, das in Japan und international als „Lucky“ bekannt ist. Umgeben von weiteren Spielgeräten, die anderen Pokémon wie „Heiteira“, „Pikachu“ und „Beroringa“ nachempfunden sind, tobten Kinder und Familien.
Dieser Park ist weit mehr als nur ein Spielplatz. Er ist Teil einer durchdachten und herzerwärmenden Initiative der Präfektur Fukushima in Zusammenarbeit mit The Pokémon Company. Nach der Dreifachkatastrophe von 2011 wurde nach Wegen gesucht, den Menschen, insbesondere den Kindern, Freude zurückzugeben und das Image der Region positiv zu verändern. Chaneira wurde zum offiziellen „Fukushima-Unterstützungs-Pokémon“ ernannt, und das aus einem genialen Grund: Sein japanischer Name „Lucky“ (ラッキー) symbolisiert Glück, und der Name „Fukushima“ (福島) enthält das Schriftzeichen für Glück oder Segen (福, fuku).

Der Park in Kōriyama, der im März 2022 eröffnet wurde, ist einer von mehreren in der Präfektur. Er ist ein Meisterstück des strategischen Rebrandings. Er nutzt die globale Anziehungskraft von Pokémon, um eine neue, positive Geschichte zu erzählen – eine Geschichte von Widerstandsfähigkeit, Hoffnung und Glück. Für Besucher wie mich ist es einfach ein fröhlicher, bunter Ort. Doch unter der Oberfläche ist er ein starkes Symbol für den Willen einer ganzen Region, ihre Zukunft aktiv und mit einem Lächeln zu gestalten.

Sogar das Handyspiel Pokémon GO ist integriert; hier erscheinen wilde Chaneira häufiger, und die Spielgeräte sind als Pokéstops im Spiel verzeichnet. Warum ich das Spiel erwähne?… Ganz einfach, ich bin in diesem Spiel seit Jahren gebannt für GPS-Manipulation.

Kōriyama und die Strahlungsmessungen

Während ich durch die Stadt schlenderte, fiel mir immer wieder etwas auf, das auf den ersten Blick deplatziert wirkte: kleine, solarbetriebene Messstationen, die auf digitalen Anzeigen ununterbrochen die aktuelle Umgebungsstrahlung anzeigten. Als Funkamateur weckten diese Geräte sofort mein technisches Interesse. Ich zückte mein Handy und fotografierte viele der Anzeigen. Werte aus meinem Gedächtnis, waren 0,146 µSv/h und 0,081 µSv/h.
In einer Region, die weltweit mit dem Namen Fukushima verbunden ist, könnten solche Zahlen ohne Kontext beunruhigend wirken. Doch gerade für technisch interessierte Besucher wie mich bieten sie eine faszinierende Möglichkeit zur Einordnung. Diese allgegenwärtigen Monitore sind kein Grund zur Sorge, sondern ein Akt radikaler Transparenz. In einer Welt nach 2011, in der Vertrauen von unschätzbarem Wert ist, haben sich die Behörden entschieden, Daten nicht zu verbergen, sondern sie zu einem alltäglichen Teil des öffentlichen Raums zu machen – so normal wie eine Uhr oder eine Temperaturanzeige.

Die Strahlung in Kōriyama nicht nur unbedenklich, sondern liegt sogar im unteren Bereich dessen, was in Deutschland als normal gilt, und ist um Größenordnungen geringer als die Dosis, der man bei einem Langstreckenflug ausgesetzt ist. Der Wert von 0,146 µSv/h würde auf ein Jahr hochgerechnet eine Dosis von etwa 1,28 mSv ergeben, was deutlich innerhalb der weltweiten Schwankungsbreite der natürlichen Jahresdosis von 1 bis 10 mSv liegt. Diese Messstationen sind somit ein mächtiges Werkzeug der öffentlichen Aufklärung. Sie führen einen ständigen, stillen Dialog mit den Bürgern und Besuchern und vermitteln eine klare Botschaft: „Wir beobachten die Umwelt, wir teilen die Daten mit euch, und es ist sicher.“

Ein Lichtermeer aus der Vogelperspektive

ls die Dämmerung hereinbrach, machte ich mich auf den Weg zurück zum Bahnhof, zu dem unübersehbaren Wahrzeichen der Stadt: dem 24-stöckigen Hochhaus „Big Eye“. Meine letzte Aufnahme des Tages entstand um 20:01 Uhr Ortszeit, was bedeutete, dass ich es gerade noch rechtzeitig vor der Schließung um 20:00 Uhr zur Aussichtsplattform geschafft haben muss.

In den oberen Etagen des Gebäudes (20 bis 24) befindet sich das „Koriyama City Fureai Science Center ‚Space Park‘“, ein Wissenschaftsmuseum mit dem laut Guinness-Buch der Rekorde höchstgelegenen Planetarium der Welt. Doch mein Ziel war die Aussichtsplattform im 22. Stock, in 96 Metern Höhe, deren Zugang erfreulicherweise kostenlos ist.

Der Anblick, der sich mir bot, war atemberaubend und der perfekte Abschluss meiner Erkundung. Unter mir breitete sich Kōriyama als ein funkelndes Lichtermeer aus. Von hier oben fügten sich die Puzzleteile meiner letzten anderthalb Tage zu einem Gesamtbild zusammen. Ich konnte die Gleise des Bahnhofs verfolgen, die mich hierhergebracht hatten. In der Ferne konnte ich die dunkle, ausgedehnte Fläche des Kaiseizan-Parks ausmachen, in dem sich der fröhliche Lucky-Park verbarg. Ich blickte in die Richtung, in der das wilde, von Libellen bewohnte Reservoir lag. Die Erkundungen am Boden waren eine Sammlung von Details und einzelnen Momenten gewesen; der Blick von oben war die Synthese.
Es war der Moment, in dem die Karte zum Territorium wurde und die einzelnen Stationen meiner Reise zur Identität einer einzigen, faszinierenden Stadt verschmolzen.

Quiz Time…

Denkst du, du kennst Kōriyama jetzt? Teste dein Wissen mit diesen Fragen für Fortgeschrittene!

Der „21st Century Memorial Park Hayama no Mori“ ist nicht nur eine Grünfläche. Welche besondere Funktion hat er im Notfall?

a) Er dient als Hubschrauberlandeplatz.
b) Er ist als Katastrophenschutz-Basis konzipiert, mit Wasserspeichern und erdbebensicheren Bauten.
c) Unter dem Park befindet sich ein großer Luftschutzbunker.

Die Schreinanlage des Kaiseizan Daijingu wurde 1876 für eine bestimmte Gruppe von Menschen gegründet. Für wen?

a) Für die Samurai-Familien der Region
b) Für die Siedler, die zur Erschließung des Landes in die Gegend kamen
c) Für die kaiserliche Familie als Sommerresidenz

DO3EET

Ich bin Frank. Ein Informatiker und Funkamateur aus Deutschland. Außerdem reise ich gern nach Japan.


By Frank Tornack, 2025-08-29